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Kinder- und Jugendpsychiatrie im Fokus

«Psychische Beschwerden junger Leute fanden lange zu wenig Beachtung»

Über die schweizweit angespannte Situation der Kinder- und Jugendpsychiatrie wurde im vergangenen Jahr viel berichtet. Die mediale Präsenz hat das öffentliche Bewusstsein über psychische Probleme junger Menschen verändert und neue Wege für ambulante und stationäre Angebote geebnet.

Suizidgedanken, Angstzustände, Depressionen. Psychische Leiden von Kindern und Jugendlichen haben in den letzten zwei Jahrzehnten kontinuierlich zugenommen. Die Pandemie hat diese Entwicklung stark beschleunigt, erzählt der Chefarzt der Kinder- und Jugendpsychiatrie (KJP) Uri, Schwyz und Zug, Jörg Leeners: «Die Nachfrage entwickelte sich über die Jahre langsam, so dass wir uns immer gut anpassen konnten. Nach dem Lockdown gab es einen sprunghaften Anstieg, der bis heute nicht abgeklungen ist.»

Ein bis zwei Notfälle pro Woche

Vor 2020 lagen die Wartezeiten für ein Erstgespräch zwischen zwei bis drei Wochen. Seit der Pandemie haben sie sich mit bis zu neun Monaten mehr als verzehnfacht. Notfälle gab es zuvor ein- bis zweimal monatlich je Ambulatorium; plötzlich waren es gleich viele jede Woche.
Weil dringende Fälle kurzfristig und Notfälle am selben Tag behandelt werden, mussten u.a. die ADHS- oder Autismus-Abklärungen zurückgestellt werden. «Solche Abklärungen sind sehr aufwendig und wir haben uns dagegen entschieden, sie weniger gut zu machen. Stattdessen wollten wir die vielen Notfälle vernünftig behandeln und umgehend Hilfe leisten können», betont Leeners.

Druck auf Jugend wächst

Der gestiegene Behandlungsbedarf komme einerseits daher, dass psychische Probleme heute akzeptierter sind: «Auf Social Media reden Menschen ganz offen über ADHS oder Burnouts, wodurch diese Krankheiten "besprechbarer" werden und die Menschen schneller Hilfe suchen», so der Chefarzt. «Andererseits ist der Druck auf die heutige Jugend grösser; sie sind sich den gesellschaftlichen Problemen mehr bewusst und nehmen diese sehr ernst.» Hinzu kamen die sozialen Einschränkungen während der Pandemie: «Plötzlich waren sie nur noch zuhause, hatten keine Ablenkung von Problemen und Stress.»

Mehr junge Frauen betroffen

Auffällig ist die steigende Behandlungsbedürftigkeit bei jungen Frauen im Alter von 10 bis 24 Jahren. Ihre stationären Aufenthalte sind zwischen 2020 und 2021 schweizweit um 26 % angestiegen (Quelle: BFS). Im direkten Vergleich stiegen die Hospitalisierungen bei jungen Männern nur um 6 % an. Laut Leeners gehen Jungen und Mädchen anders mit persönlichen Problemen um: «Jungs reagieren häufiger mit aggressivem Verhalten, Mädchen schlucken Probleme eher herunter und werden dadurch stiller, depressiver. Deswegen werden bei ihnen auch mehr Depressionen und Angststörungen diagnostiziert.»

Zu wenig Fachpersonal und psychiatrische Angebote

Schweizweit braucht es mehr psychiatrisches Fachpersonal, so auch im Konkordatsgebiet der Triaplus, wo es nur zwei niedergelassene Kinder- und Jugendpsychiater gibt. Die Standorte der Triaplus decken mit über 80 % den grössten Teil der ambulanten Versorgung ab. Jörg Leeners bedauert, dass die Psychiatrie für Ärzte noch zu wenig attraktiv ist. Unter anderem die lange Ausbildung schrecke viele ab. Auf der anderen Seite müsse aus wirtschaftlichen Gründen abgewogen werden, ob zusätzliches Personal verpflichtet werden kann. Gerade während der Pandemie war ungewiss, ob und wie lange die hohe Nachfrage nach psychiatrischen Behandlungen anhält.

Entlastung dank zusätzlicher Leistungsangebote

Die im Herbst 2022 begonnene Vergrösserung der KJP in Baar war nur dank der Unterstützung des Kantons möglich. Das Personal konnte um 3.5 Vollzeitstellen aufgestockt werden, was bereits Wirkung zeigt; tendenziell werden die Wartelisten etwas kürzer. «Dies vor allem, weil wir viele Fachärztinnen und -ärzte rekrutieren konnten. Wir sind im Schweizer Vergleich nun so ziemlich die einzigen, die alle Stellen besetzt haben», freut sich der Chefarzt.
Im stationären Bereich stehen dank des erweiterten Versorgungsauftrags ebenfalls neue Angebote zur Verfügung: Seit Januar 2023 kann die Triaplus Kinder und Jugendliche zusätzlich zur Klinik Littenheid auch in die Luzerner Psychiatrie einweisen, was den Einbezug des nahen Umfelds erleichtert. Ausserdem behandelt die Klinik Zugersee auf ihrer Station für junge Erwachsene seit Januar 2023 auch Adoleszente ab 16 Jahren.
Gleichzeitig startete in der KJP Uri und Schwyz mit «AdoASSIP» eine Kurzintervention für Jugendliche nach einem Suizidversuch, um weiteres suizidales Verhalten zu verhindern. Jörg Leeners ist aufgrund der vielen Anmeldungen von suizidalen Jugendlichen erleichtert, dass die Kantone dieses Projekt ermöglichen und hofft, dass es bald auch im Kanton Zug umgesetzt wird.

Neues teilstationäres Angebot

Teilstationäre Angebote für Kinder- und Jugendliche können eine Hospitalisierung verhindern, wie das Zuger Tagesambulatorium in Baar zeigt. Seit der Eröffnung vor sechs Jahren hat sich das Ambulatorium mit integrierter Tagesschule bewährt, sagt Leeners: «Ein tagesambulantes Angebot ist für Betroffene und für ihr Umfeld eine enorme Hilfe. Die Behandlung findet in Wohnortnähe statt und die Kinder können meist rasch wieder in ihre Regelschule integriert werden.»
Ein grosser Fortschritt ist die für Herbst 2024 geplante Eröffnung einer Tagesklinik mit integriertem Schulbetrieb in Steinen im Kanton Schwyz, wo dereinst Kinder aus dem ganzen Konkordatsgebiet behandelt werden können. Zum ersten Mal angestossen wurde das Projekt vor über 15 Jahren, erinnert sich Leeners: «Wir freuen uns, dass diese Tagesklinik endlich realisiert werden kann. Ich denke, dass die psychischen Beschwerden der jungen Leute lange zu wenig Beachtung fanden und dank der medialen Aufmerksamkeit auch in der Politik in den Fokus kamen. Gemeinsam mit der kantonalen Unterstützung können wir viel mehr junge Menschen behandeln und der negativen Entwicklung entgegensteuern.»

Dr. med. Jörg Leeners

Chefarzt und Bereichsleiter Kinder- und Jugendpsychiatrie Uri, Schwyz und Zug